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Bezüglich Lehre und Praxis der Kirche empfindet man vielfach einen Mangel an Barmherzigkeit, vor allem da, wo ein Handeln gemäß der traditionellen Lehre für die Betroffenen eine erhebliche Belastung bedeutet. Im Brennpunkt stehen dabei besonders wiederverheiratete und homosexuelle Menschen, denen sexuelle Enthaltsamkeit zugemutet wird. Da es für solche Zumutung aber starke Argumente geben müsste, sind die vor allem mit Rekurs auf die Bibel vorgebrachten Gründe zu überprüfen. Falls diese aber der Überprüfung nicht standhalten, geht es nicht um Barmherzigkeit, sondern um Gerechtigkeit für die Betroffenen. In anderem Kontext kann der Ruf nach Barmherzigkeit der Bagatellisierung von Unrecht und Schuld dienen. Im Fall der kalabrischen Mafiosi hat Papst Franziskus diese für exkommuniziert erklärt, gegen Plädoyers für Barmherzigkeit von anderer Seite. Dabei umfasst die Rede von der Barmherzigkeit durchaus unterschiedliche Handlungsweisen, die jeweils einer gesonderten ethischen Beurteilung bedürfen. Auch das neuerdings vielfach bemühte Gesetz der Gradualität versucht, ethischen Rigorismus abzumildern und so auf diese Weise eine Art Barmherzigkeit zu ermöglichen, ohne eine „Gradualität des Gesetzes“ zu proklamieren. Sollte dieser Versuch freilich misslingen, ginge es auch hier eher um Gerechtigkeit.
Über den Autor
Werner Wolbert war 1984-85 Professor für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Paderborn, seit 1989 Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Seit 2012 ist er emeritiert.