In allen Theorien des Schönen und der Kunst, die in der italienischen Renaissance entwickelt wurden, nimmt der Begriff der grazia eine Schlüsselstellung ein. Ebenso gab es in der Theologie des 16. Jahrhunderts keinen anderen Gegenstand, der so kontrovers diskutiert wurde wie der der gratia. Sowohl in der Ästhetik als auch in der Religion verweist grazia/gratia auf eine Gabe, die vom Menschen nicht hergestellt, verdient oder eingefordert werden kann. Gnade ist in Kunst wie Theologie eine Figur der Unverfügbarkeit, der Unbegreiflichkeit und einer nicht regulierbaren Freiheit. Das gilt auch für das Nachdenken über Gnade vor der Reformation. Die vielen unterschiedlichen Theologien des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit unterscheiden sich nicht hinsichtlich des grundsätzlichen Charakters, den sie der gratia als unverdienbarer, volatiler, alles menschliche Maß sprengender Gabe zuschreiben, sondern in der Frage nach der Bedeutung der menschlichen Werke. Stellen diese Werke und die Anstrengungen des Menschen vor und nach der Gnadengabe – auch wenn sie die Gnade nicht erzwingen oder produzieren können – einen integralen und notwendigen Bestandteil des Heilsgeschehens und des Kunstschaffens dar?
In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, das bildnerische wie dichterische Werk von Michelangelo Buonarroti (1475–1564) mittels einer Untersuchung seiner Vorstellung von Gnade einzuordnen in das komplexe Feld der Religionsgeschichte Italiens im 16. Jahrhundert.
Über den Autor
Günther Wassilowsky ist seit 2020 Professor für Historische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor hatte er Professuren für Kirchengeschichte an den Universitäten von Linz, Innsbruck und Frankfurt am Main inne. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturgeschichte des Katholizismus und des Papsttums, der Religionsgeschichte Italiens und der Stadt Rom.